Einleitung
Zwei Jahre ist es her, da waren die beiden Brüder Gottfried und Martin Heubach im Camper Van unterwegs im französischen Burgund. Der Diakon im Ruhestand und der Fotograf waren von ihrer Pilgerreise so erfüllt, dass sie sich in diesem Jahr zum zweiten Mal im KNAUS auf die Reise machten. Der L!VE I, mit seinen zwei großen Einzelbetten im Heck, ist für die beiden das ideale Zuhause, um die spirituelle Schönheit im Osten Deutschlands zu erkunden.
Neue Pläne
Vor zwei Jahren war Burgund mit seinen romanischen Kirchen und Klöstern unser Ziel. In diesem Jahr stand eigentlich Italien auf dem Programm, wir wollten auf den Spuren von Franz von Assisi nach Umbrien reisen. Aber „Corona“ hat unsere Pläne vereitelt. Ende Mai wurde zwar bekannt, dass die Reiseverbote für Italien am 15. Juni aufgehoben würden, aber am Schluss waren die Bedenken doch größer als unsere Risikofreude. Wir disponierten kurzfristig um und entschieden uns, in den Osten Deutschlands zu fahren.
Wir räumten alle Italien-Bücher zur Seite, stürzten uns auf Literatur über Sachsen-Anhalt und entdeckten die „Straße der Romanik“. Wie eine große Acht umfasst sie ganz Sachsen-Anhalt und verbindet an die hundert romanische Burgen, Kirchen und Klöster. Diese Bauwerke entstanden vor tausend Jahren, als die Region für ungefähr hundert Jahre in das Zentrum des entstehenden deutschen Reiches rückte. Kaiser Otto I. entwickelte sich zur politischen Zentralgestalt und ließ Magdeburg zum „Rom des Nordens“ ausbauen.
Fahren im L!VE I
Unsere Reispläne sahen täglich wechselnde Standorte vor. Daher erwies sich ein Wohnmobil als ideales Verkehrsmittel. Der L!VE I von KNAUS bietet zwei Reisenden großzügig Platz und eine Überfülle an Stauraum. Küche und Sanitäreinrichtungen, Batterie und Wassertanks sind so ausgelegt, dass man einzelne Tage auch ohne externe Versorgung bequem genießen kann. Wir Brüder bewährten uns als eingespieltes Reiseteam. Martin war zuständig für Technik und Fahren, Gottfried für Planung, Strecke und Inhalte. Martin genoss die Übersicht im Cockpit und die ausgereifte Technik, die ein entspanntes Fahren ermöglichte.
Gottfried thronte wie ein König auf dem Beifahrersitz. Bei diesem befindet sich keine Tür, was zunächst sehr ungewohnt war, sich aber als kluge Entscheidung der Konstrukteure erwies. Denn der Beifahrersitz entwickelte sich im Verlauf der Reise zum bequemen Arbeitsplatz, der viele Ablagemöglichkeiten für diverse Reiseführer, Betriebsanleitungen, Kartenmaterial, Schreibzeug und Fotoausrüstung bot.
Aufbruch
Wir starteten unsere Reise in Jandelsbrunn bei heftigem Regen, durch den sich der L!VE I souverän steuern ließ. Auf unseren ersten Stationen im Süden Sachsen-Anhalts besuchten wir viele Kirchen, deren romanischer Kern gotisch überbaut worden war, herrliche Bauwerke in denen Architektur zur Musik und Bauskulptur zur Verkündung wird. Je weiter man nach Norden fährt, desto mehr nimmt der wehrhafte Charakter der Kirchen zu, sie wirken abweisend und verschlossen. Im Nord-Osten bezauberte uns die schlichte, filigrane Schönheit der aus Backstein errichteten Sakralbauten.
Eine der beeindruckenden Reiseimpressionen war ein Gottesdienstbesuch im Havelberger Dom. Als er vor neunhundert Jahren gebaut wurde, war Havelberg Grenzland zu den ursprünglich heidnischen Slaven. Man sieht dem Kirchturm an, dass er in unruhigen Zeiten gebaut worden ist. Die Ausmaße des Westriegels von 30 m Breite bei nur 6 m Tiefe geben dieser Kirche ihr ganz eigenes Gesicht. Seine bauliche Gestalt lässt sich durch das offenbar sehr geschärfte Bedürfnis nach Schutz bzw. Wehrhaftigkeit erklären. Gut hundert Jahre nach ihrer Erbauung brannte die Kirche aus. Das Kirchenschiff brach in sich zusammen. Deshalb begann man 1279 über die romanischen Mauern eine großartige, gotische Kathedrale zu bauen. Betritt man heute die Kirche, erwarten einen deshalb Rundbögen der romanischen Ursprungskirche über die das gotische Kirchenschiff hoch hinauf strebt.
Wir waren insgesamt 16 Personen im Gottesdienst, inklusive Pfarrer, Organist und Küster. Die Corona-Abstandsregeln waren also leicht einzuhalten, jeder hatte drei Bankreihen für sich alleine. Aber der Organist spielte ein Präludium von Johann Sebastian Bach, als ob die Kirche voll besetzt wäre. Die Orgel stammt aus dem Jahr 1777 und gehört kunstgeschichtlich zum Rokoko. Der Pfarrer predigte über zwei Andachten, die er in YouTube gefunden hatte. So saßen wir in einer romanischen Kirche mit gotischem Überbau, hörten Barockmusik auf einer Rokokoorgel und eine Predigt, die der Pfarrer aus YouTube-Versatzstücken zusammengesetzt hatte.
Blühende Landschaften
Was wir überhaupt nicht „auf dem Schirm“ hatten, war die Vielfalt der Landschaft in Sachsen-Anhalt. Der erste Reiseabschnitt führte uns durch den Harz mit vertrauten Landschaftsbildern, die uns Schwaben an den Schwäbischen Wald oder auch den Schwarzwald erinnern. Dann querten wir die Magdeburger Börde mit ihrer flachen Weite, eine Landschaft, die sich aus der erhöhten Sitzposition im Wohnmobil besonders schön erschließt. Früher waren ihre höchsten Erhebungen Zuckerrübenblätter, heute sind es Wälder aus mahlenden Windrädern, die von den bunten Farben weiter Getreidefelder grundiert werden, von kühlem Kornblumenblau, vom flammenden Rot des blühenden Mohns und dem warmen Gelb reifen Korns.
Eigentlich hätten wir es wissen müssen, waren dann aber doch überrascht von der Kluft, die noch immer den Osten vom Westen Deutschlands trennt. Wir erlebten die Tristesse verlassener Dörfer, aufgelassener Fabrikhallen und schäbiger LPG-Anlagen. Wir sahen viele schmutzig graue Fassaden, verwilderte Gärten, zugewachsene Auffahrten, geschlossene Läden und Gaststätten. Wir begegneten aber auch vielen Gartenzwergen in aufgehübschten Vorgärten und Männern, die mit dem Bier in der Hand gemütlich in ihrer offenen Garage saßen. Wir staunten über kilometerlange schnurgerade Alleen und die Schönheit großer Parkanlagen. Und wir entdeckten wunderbar gestaltete neue Museen mit edelster Ausstattung.
Man könnte meinen, dass diese Landschaft Wohnmobilfahrer vor keine besonderen Herausforderungen stellt. Aber weit gefehlt. In den historischen Stadtkernen gibt es viele enge Sträßchen und steile Burg-Auffahrten, die ursprünglich nicht für Wohnmobile gebaut worden sind. Dabei erwies sich der L!VE I trotz seiner 7,5 m Länge als erstaunlich wendig, es lässt sich auch von Ungeübten gut beherrschen und sicher steuern. Auch rückwärts kann man Dank Spiegel und Rückfahrkamera präzise navigieren. Für besonders enge Innenstädte hatten wir zwar Fahrräder im Heckstauraum mit dabei, haben sie aber nie ausgepackt, weil wir überall bequem innerstädtisch parken und alle Ziele fußläufig erreichen konnten.
Das morgendliche Frühstück und das abendliche Vesper konnten wir unter der breiten, fahrzeugeigenen Markise im Freien genießen. Sehr genossen haben wir auch die ausgeklügelte Lichtregie für gemütliche Lesestunden und die breiten Einzelbetten im Heck des Fahrzeugs, die beste Voraussetzungen für einen guten Schlaf bieten. Auf den langen Fahrten hatten wir viel Zeit zum Reden. Dabei tauchten wir auch in unsere Familiengeschichte ein, in der die Communität Christusbruderschaft in Selbitz, dem ersten Ziel unserer Reise, eine wichtige Rolle spielte. Die Communität eröffnete vor 25 Jahren auf dem Petersberg bei Halle einen zusätzlichen kleinen Konvent, in dem vier Schwestern und zwei Brüder leben. Dieser Konvent war der Schlusspunkt unserer Reise. Die Schwestern und Brüder praktizieren in der romanischen Klosterkirche tägliche Stundengebete, an denen wir teilnehmen durften und die uns tief berührten. Als unser Gesang die uralte Kirche füllte, sprachen die Steine zu unserer Seele.
© Gottfried und Martin Heubach im Juli 2020